Besteuerungsrückfall bei unterschiedlicher Abkommensanwendung

BFH v. 11.7.2018 – I R 52/16

Der Begriff der Einkünfte i.S.d. § 50d Abs. 9 Satz 1 EStG 2002 i.d.F. des JStG 2007 erfasst positive und negative Einkünfte, so dass abkommensrechtlich steuerfrei gestellte Verluste bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen vom Besteuerungsrückfall erfasst werden und im Inland ungeachtet des Abkommens abziehbar sind. Zu einem sog. (negativen) Qualifikationskonflikt kann es kommen, wenn die Vertragsstaaten von unterschiedlichen Sachverhalten ausgehen (Subsumtionskonflikt) oder wenn sie Abkommensbestimmungen bzw. Abkommensbegriffe nach ihrem nationalen Steuerrecht unterschiedlich auslegen.

Der Sachverhalt:
Der Kläger hatte im Jahr 1991 in Brüssel ein Anwaltsbüro angemieteten. Der Büromietvertrag bestand bis 2010. Danach mietete der Kläger ein „Anschlussbüro“. Seit Ende 2012 ist er in Brüssel in keinerlei Organisationsform mehr präsent. Bis September 1992 war zunächst kein Anwalt im Büro Brüssel tätig. Halbtags wurde eine Teilzeitsekretärin beschäftigt. Seit Oktober 1992 war in unterschiedlicher Ausprägung, gleichwohl aber durchgängig, ein Anwalt präsent, der in der Brüsseler Kanzlei Dienste erbrachte, die nach der damals gültigen BRAGebO zumindest als Rat, Auskunft oder Gutachten abrechenbar waren. Im Übrigen diente das Büro als Repräsentanz und Partner in Brüssel. Letzteres ergab sich auch aus dem Briefkopf der Kanzlei.

Während der Kläger die Ansicht vertrat, dass das Büro angesichts seiner Ausrichtung als Repräsentanz in Brüssel nicht als feste Einrichtung qualifiziert werden könne, ging das Finanzamt davon aus, dass er in Brüssel über eine feste Einrichtung i.S.d. Art. 14 Abs. 1 DBA-Belgien verfügt habe und Belgien daher das Recht zur Besteuerung der der festen Einrichtung zuzurechnenden Einkünfte zustehe. Die Verluste des Büros Brüssel seien im Inland lediglich bei der Ermittlung des besonderen Steuersatzes (Progressionsvorbehalt) zu berücksichtigen.

Das FG gab der hiergegen gerichteten Klage statt. Auf die Revision des Finanzamtes hat der BFH die Entscheidung aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen.

Gründe:
Die Annahme des FG, das Besteuerungsrecht sei gem. § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG 2002/2007 an Deutschland zurückgefallen, ist nicht von ausreichenden tatsächlichen Feststellungen getragen.

Die der Anwendung des § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG 2002/2007 rechtssystematisch vorgehende Beurteilung des Streitfalles nach Maßgabe des EStG und des DBA-Belgien durch das FG ist frei von Rechtsfehlern. Der Begriff der Einkünfte i.S.d. § 50d Abs. 9 Satz 1 EStG 2002 i.d.F. des JStG 2007 erfasst positive und negative Einkünfte, so dass abkommensrechtlich steuerfrei gestellte Verluste bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen vom Besteuerungsrückfall erfasst werden und im Inland ungeachtet des Abkommens abziehbar sind. Der Senat kann aber nicht abschließend beurteilen, ob sämtliche tatbestandlichen Voraussetzungen des § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG 2002/2007 erfüllt und deshalb die in Belgien angefallenen Verluste von der Bemessungsgrundlage der deutschen Einkommensteuer abzuziehen sind. Es fehlen ausreichende Tatsachenfeststellungen des FG.

Sind Einkünfte eines unbeschränkt Steuerpflichtigen nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer auszunehmen, so wird die Freistellung der Einkünfte ungeachtet des Abkommens nicht gewährt, wenn der andere Staat – hier Belgien – die Bestimmungen des Abkommens so anwendet, dass die Einkünfte in diesem Staat von der Besteuerung auszunehmen sind oder nur zu einem durch das Abkommen begrenzten Steuersatz besteuert werden können; die Regelung ist rückwirkend für alle noch nicht bestandskräftigen Steuerfestsetzungen anzuwenden (§ 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 59a Satz 6 EStG 2002/2007).

Die Norm setzt einen sog. (negativen) Qualifikationskonflikt voraus. Dazu kann es kommen, wenn die Vertragsstaaten von unterschiedlichen Sachverhalten ausgehen (Subsumtionskonflikt), wenn sie Abkommensbestimmungen unterschiedlich – ggf. auch rechtsfehlerhaft – auslegen (Auslegungskonflikt) oder wenn sie aufgrund einer Art. 3 Abs. 2 des Musterabkommens der Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD-Musterabkommen) entsprechenden Abkommensvorschrift (wie hier Art. 3 Abs. 2 DBA-Belgien) Abkommensbegriffe nach ihrem nationalen Steuerrecht unterschiedlich auslegen. Ursache für die Nichtbesteuerung muss danach immer die Anwendung des Doppelbesteuerungsabkommens sein. Nicht ausreichend und den tatbestandlichen Anforderungen nicht genügend ist hingegen eine internrechtliche Steuermaßnahme, wie etwa der Verzicht auf das abkommensrechtlich zugewiesene Besteuerungsrecht.

Die von der Vorinstanz getroffenen Tatsachenfeststellungen erlauben jedoch nicht die Annahme, dass es im Streitfall zu einem Qualifikationskonflikt im vorgenannten Sinne gekommen ist. Dem Senat erscheint es aber als nicht ausgeschlossen, dass im zweiten Rechtsgang der Nachweis eines negativen Qualifikationskonflikts, ggf. mittels der von den Klägern erstinstanzlich beantragten „Amtsauskunft“ oder durch die Vorlage inhaltlich präzisierter Bescheinigungen, geführt werden kann. Sollte in tatsächlicher Hinsicht nicht mehr aufgeklärt werden können, ob es zu einem Qualifikationskonflikt i.S.d. § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG 2002/2007 gekommen ist, so tragen die Kläger die Feststellungslast, weil sie sich auf einen für sie günstigen steuerrechtlichen Ausnahmetatbestand berufen.

Quelle: BFH online